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Singen im "Dritten Reich"

Mit der Weltwirtschaftskrise, die seit Oktober 1929 zunehmend zu Arbeitslosigkeit und Armut führte, wuchs der Unmut in der Bevölkerung im gesamten Reich nochmals an. Radikale Forderungen nach einem grundsätzlich anderen Gesellschaftssystem zeigten sich in den Wahlergebnissen bei denen mal die Kommunisten, mal die Nationalsozialisten Zuspruch erhielten.  Bei den Juliwahlen 1932 erhielt die NSDAP in Singen dann fast den gleichen Stimmenanteil wie die stimmenstärkste Zentrumspartei. SPD und KPD hatten zahlreiche Wähler verloren.

Während in Radolfzell am Abend des 30. Januar 1933 bereits SA-Truppen vor dem Rathaus aufmarschierten und die Hakenkreuzflagge hissten, demonstrierten in der Arbeiterstadt Singen am ‘Tag der Machtergreifung’ und am folgenden Tag nach Betriebsschluss zahlreiche sozialistisch gesinnte Arbeiter gegen das Kabinett Hitler; die KPD rief gar zu einem Generalstreik auf.

Die Kommunalpolitik beschäftigte hingegen die Friedhofserweiterung und die Überschuldung der Stadtkasse. Erst Mitte Februar wurde die NSDAP auch in Singen aktiv und begrüßte Nationalsozialisten aus dem Umland, um die eigene Bewegung in vorzeigbarer Stärke der Öffentlichkeit zu präsentieren. Doch der Aufmarsch scheint kein überzeugender Triumphzug der Nazis gewesen zu sein: Die ‘rote Hochburg’ Singen wurde von KPD- und SPD-Anhängern mit Protestaktionen verteidigt und vor allem die konservativen Kräfte suchten in der bevorstehenden Fasnet ein wenig Ablenkung von den politisch und wirtschaftlich unsicheren Zeiten.

Das ‚rot-schwarze Nest‘ und der Aufstieg der Nationalsozilisten

Schon in den Jahren vor 1933 machte sich im politischen Leben eine steigend fieberhafte Spannung bemerkbar. Es gab scharfe politische Auseinandersetzungen zwischen rechts und links, stürmische Versammlungen und Auseinandersetzungen, besonders gegen Ende 1932 bei einer Versammlung […]. Die letzte Zentrum-Versammlung war durch Dr. Föhr in der Turnhalle, zwei oder drei Tage vor der entscheidenden Reichstagswahl am 3. März 1933. Schon monatelang vorher patroullierten durch die Straßen, auf einer Seite die SA, auf der anderen Seite die BadenWacht [Schutztruppe der Zentrumspartei] und Kommunistentrupps.

 

Stadtpfarrer Gottfried Kaiser, Pfarrchronik Herz-Jesu, S. 44.

Ab März 1933 erfolgten dann Maßnahmen der Unterdrückung und Gleichschaltung. Die Herausgabe der SPD-Zeitung „Volkswille“ wurde verboten, die Gewerkschaften und Arbeiter-Sportvereine aufgelöst. Auch in der Stadtverwaltung kam es zu Konflikten mit den neuen Machthabern; neben ‚roten‘ Arbeitern traf es vor allem katholische Beamte:

„Eine große Anzahl führender Zentrumsbeamter wurde beurlaubt. […] Hier in Singen wurden die Herren Burkart vom Jugendamt & Dr. Velz vom Wohlfahrtsamt beurlaubt und Haussuchungen bei ihnen gehalten. Der erstere darf wieder an seine Stelle zurück. Dr. V. [Velz] sei untragbar. Die Untersuchung ergab nichts Entlastendes. Der Steuerinspektor Becker, dem man im vorigen Jahr schon das an die Wandstellen angedroht [hatte], wenn Hitler an die Macht komme, ein braver, um die kath. Sache hochverdienter Mann, Mitglied des Gesamtstiftungsrats & erfolgreicher Agitator für die Zentrumssache, geht unter seelischem Druck freiwillig in den Tod. Am 5. Mai wird Bürgermeister Dr. Kaufmann seines Amtes enthoben & an seiner Stelle Dr. Hein mit der Führung der Geschäfte betraut & am letzten Freitag gewählt.“Stadtpfarrer August Ruf am 30. Mai 1933, PfAPP XVII.d/188, S. 67-69

Ein Leben zwischen Verfolgung und Anpassung

Weite Teile der Singener Bevölkerung fügten sich den neuen Gegebenheiten im Führerstaat. Eine Bespitzelung und auch Verhaftungen für unvorsichtige Äußerungen am Stammtisch oder bei der Arbeit hatten zur Folge, dass politische Themen gemieden wurden. Während sich die Drohungen und Gewaltakte vor und kurz nach der Machtübernahme sowohl gegen die „Roten“ (Anhänger der KPD und SPD) wie auch gegen die „Schwarzen“ (Anhänger des katholischen Zentrums) gerichtet hatten, wurde seit dem Sommer 1933 verstärkt gegen die Kommunisten vorgegangen. Die Nazis waren sich bewusst, dass mit der katholischen Mehrheit in der Stadt sehr vorsichtig umgegangen werden musste. Schließlich dominierte das katholische Bürgertum das traditionelle Vereinsleben, das Handwerk, den Einzelhandel und die noch immer bedeutende Landwirtschaft.

Wanderung der Singener Arbeiterjugend um 1930.

Abgetaucht: Arbeit der Kommunisten & Sozialdemokraten

Im August 1933 fanden in der Singener Nordstadt mehrere Hausdurchsuchungen bei Anhängern des Kommunismus statt. Die NS-Presse schrieb: „Die verbotene kommunistische Partei gibt keine Ruhe. Sie wühlt und schafft im Verborgenen gegen den Zustand der Ordnung und Sicherheit und gefährdet somit den Wiederaufbau.“ (Bodensee-Rundschau, 25. August 1933). Immer wieder kam es zu Aktionen der Polizei, der SA und SS und später der Gestapo (Geheime Staatspolizei), die sich gegen sozialistische Treffen, den Besitz und die Verbreitung antifaschistischer Flugblätter, Zeitungen und Bücher richteten. Zu den Verfolgten zählten nicht nur ehemalige KPD-Anhänger, sondern auch viele ehemalige SPD-Mitglieder. Die sozialdemokratischen Vereine wie die Naturfreunde oder der Gesangverein „Vorwärts“ waren seit der Machtergreifung verboten. Die Arbeit im Untergrund veranlasste die NS-Behörden dazu neben regelmäßigen Durchsuchungen und Entlassungen auch Haftstrafen in Gefängnissen und Konzentrationslagern durchzusetzen. Zahlreiche Männer und Frauen aus Singen und der Umgebung, die sich antifaschistisch engagiert hatten, starben an den Folgen der Haft.   

Der katholische Jugendverein St. Josef im Frühjahr 1933.

Benachteiligt: Katholische Jugend

Anders als die protestantische Staatskirche, die noch 1933 gleichgeschaltet wurde, sicherte sich die katholische Kirche mit dem Reichskonkordat Sonderrechte. Katholische Vereine und Jugendgruppen durften weiterbestehen, mussten aber ihre absolute Loyalität zum Führerstaat bekunden. Dennoch überwachte die Gestapo sowohl die Geistlichen als auch die katholischen Vereine, insbesondere die Jugendarbeit. Durch Schikane der SA, der Hitlerjugend und des „Bund deutscher Mädel“ schüchterte man Kinder, Jugendliche und deren Eltern ein. Als 1937 die katholischen Jugendgruppen verboten wurden, setzten diese ihre Tätigkeit im Geheimen fort. Für Gruppenstunden trafen sie sich auf dem Hohentwiel oder in der Kirche. Im Kirchturm von Herz-Jesu ermöglichte Pfarrer Kaiser die Nutzung der Turmzimmer für Treffen, auch während des Kriegs. Zahlreiche Jungen und Mädchen traten – auch aus Angst davor, dass die Eltern benachteiligt würden – der HJ oder dem BDM bei, blieben den katholischen Gruppen aber treu und besuchten die geheimen Treffen. Flogen die von der Gestapo bespitzelten Zusammenkünfte auf, drohten Arreststrafen, Schulausschlüsse oder die Verweigerung von Ausbildungsplätzen.

Flaschnermeister Otto Waibel als Feuerwehrkommandant, um 1920.

Mitgemacht: Die „gute alte Zeit“ und braune Verheißungen

Die NSDAP in Singen hatte vor 1933 nur wenige Mitglieder. Die örtliche „Hitler-Bewegung“ setzte sich mit wenigen Ausnahmen aus unbekannten Zugezogenen zusammen. Daher war man zur Schaffung von Akzeptanz auf Einheimische angewiesen, die sich bis 1933 nicht als „Nazis“ verstanden, die aber ihre Werte und ihre politische Haltung an das neue Regime anpassten. Unter namhaften Singenern finden sich zahlreiche solcher Fälle, die, wenn überhaupt, erst spät der NSDAP oder einer Parteiorganisation beitraten, im Einzelhandel oder Handwerk beachtliche Einkommen erwirtschafteten, katholischer Konfession waren und in den „Altsingener“ Vereinen engagiert waren. So gehörte beispielsweise Flaschnermeister Otto Waibel (*1876) vor 1933 der liberalen Deutschen Staatspartei an. Bereits vor der Stadterhebung war Waibel Mitglied der freiwilligen Feuerwehr und der Poppele-Zunft geworden. Von 1911–1936 war er Feuerwehrkommandant und zudem Vorsitzender des Kreisverbandes. Nach dem Kriegsdienst war er Mitglied im Bürgerausschuss und im Gemeinderat. Die militaristische und nationalistische Grundeinstellung Waibels machte den alternden Handwerksmeister zu einem Mitläufer, der die Gleichschaltung unhinterfragt unterstützte. Otto Waibel starb 1943.

Ermordet: Rassismus und Holocaust

Seit dem Entstehen der nationalsozialistischen Partei hetzte diese offen gegen Juden und andere Minderheiten. Mit der Übernahme des Staatsapparats beherrschte diese rassistische Grunddoktrin auch das Handeln der Gesetzgebung, von Behörden aber auch der lokalen Gesellschaft. In Singen lebten neben einer kleinen jüdischen Gemeinde seit Jahrhunderten immer wieder „Fahrende“ (Jenische), Sinti und Roma.  Obwohl sich die Singener beispielsweise bei Fastnachtsumzügen selbst als Nachkommen der lokal als „Kessler“ oder „Zigüner“ bezeichneten Volksgruppen identifizierten, standen diese am Rande der Gesellschaft und ihre Lebensweise wurde kriminalisiert.

Das Schiksal der Familie Winter

Am Tannenberg lebte seit 1926 die Sinti-Familie Winter. Johann und Phillippine Winter hatten neun Kinder. Die Familie ernährte sich mit Reisegewerben und verdiente durch Wirtshausmusik ein Zubrot. Nachdem der Vater 1941 aufgrund „nichtarischer Abstammung“ aus der Wehrmacht entlassen worden war, wurde die Familie am 23. März 1943 aus rassehygienischen Gründen von der Gestapo in ihrem Haus in der Duchtlinger Straße verhaftet. Es erfolgte die Deportation ins Konzentrationslager Auschwitz. Neben Johann und Phillippine Winter ließen vier weitere Familienangehörige dort ihr Leben.     

Das Schiksal der Familie Guttmann

Dieses Ladenschild stammt vom Konfektionshaus Guttmann in der Scheffelstraße 26. 1908 hatte der aus Posen (damals Preußen) stammende Sally Guttmann ein Geschäft für Bekleidung, Heimtextilien und Lederwaren in der aufstrebenden Singener Geschäftsmeile – der Scheffelstraße -  eröffnet. 1909 und 1920 zogen auch seine Brüder Siegfried und Berthold mit ihren Familien hierher. Die geschäftstüchtigen Brüder engagierten sich vielfach. Als Mitglieder im Schnupfverein, im Männergesangsverein, im FC Singen und als Passivmitglieder der Feuerwehr spendeten sie beträchtliche Summen für wohltätige Zwecke und waren gut in die Singener Gesellschaft integriert. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten änderte sich dies schlagartig. Am 1. April 1933 marschierte die SA vor und versperrte den Ladeneingang. Die Kundschaft ging drastisch zurück. Sally Guttmann musste 1934 das Geschäft verkleinern, in Folge von Hetzpropaganda musste er das Haus 1936 schließlich sogar verkaufen, 1938 das Geschäft endgültig schließen. Sohn Martin Guttmann war bereits früher verhaftet und ins KZ gebracht worden. Siegfried starb an einem Herzinfarkt infolge einer Hausdurchsuchung der Gestapo.

Siegesjubel und Untergang – Eine Stadtbevölkerung als „Kriegsgemeinschaft“

Bereits lange vor dem eigentlichen Kriegsbeginn am 1. September 1939 hatte sich ein neuerlicher Krieg abgezeichnet. Die Bevölkerung war gezielt auf den Luftschutz vorbereitet worden. Bereits bei den großen Feuerwehrübungen 1933 und 1934 hatte man einen feindlichen Fliegerangriff mit „Spreng- und Gasbomben“ angenommen. Anfang 1939 wurden bereits 1.500 Singener Bürger zum Ausbau des Westwalls eingezogen. Mit dem Kriegsausbruch mussten von den rund 18.000 Einwohnern nochmals sehr viele Männer ihren Dienst bei der Armee antreten. Die Frauen wurden in der Industrie oder als Luftschutz- oder Sanitätshelferinnen dienstverpflichtet. In der Ausnahmesituation des Krieges verschwammen die unterschiedlichen Lebenswelten zunehmend. Fast alle Bürgerinnen und Bürger erlebten persönliche Schicksalsschläge durch den Tod von Verwandten und Freunden. Hinzu kam die Not durch den zeitweisen Mangel an Lebensmitteln und anderen Gütern.

Der Luftkrieg erreicht Singen

Relativ spät, im Herbst 1944, wurde Singen erstmals Ziel alliierter Luftangriffe. Vor allem die Gleisanlagen am Bahnhof waren Ziel der Angriffe mit Sprengbomben. Der schlimmste Angriff, der sich tief in das Gedächtnis der Stadt brannte, erfolgte am 25. Dezember 1944. Am Vormittag waren noch zahlreiche Menschen in die Weihnachtsgottesdienste gegangen, am Nachmittag war ein großes Krippenspiel in der katholischen Kinderschule geplant. Doch dazu kam es nicht mehr.