Die Stadt zwischen Besatzungszeit und Wirtschaftwunder
Am 24. April 1945 marschierten in Singen die ersten französischen Truppen ein. Noch am selben Tag wurde die Stadt kampflos übergeben und der Arzt
Dr. Bernhard Dietrich zum neuen Bürgermeister ernannt. Nach der Gesamtkapitulation der Deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 wurden die Gebiete im Südwesten Deutschlands Teil der französischen, vierten Besatzungszone.
Die Nachkriegsjahre unter französischer Flagge waren eine schwierige Zeit. Entbehrungen, Trauer und Hunger prägten den Alltag. Die Lebensmittel waren knapp und die Soldaten der Besatzungsmacht mussten nun zusätzlich versorgt werden. Mehrfach beschlagnahmten sie größere Mengen an Lebensmitteln und Tieren zur Versorgung der eigenen Landsleute in Frankreich. Dies führte zu zahllosen Plünderungen in den ersten Wochen nach Kriegsende, die schnellstens unter strengste Bestrafung gestellt wurden. Je weniger Essen zugeteilt wurde, desto mehr musste von den Menschen selbst organisiert werden: durch Selbstversorgung im eigenen Garten, durch Tauschhandel und Schwarzmarktgeschäfte oder Hamstern. Der Nahrungsmangel hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Die Unterernährung konnte auch durch die 1946 wieder eingeführte Schülerspeisung nur langsam behoben werden.
neue Köpfe
Nach dem Krieg scheint die Singener Bürgerschaft unter dem Eindruck der Not und der zurückliegenden Nazi-Herrschaft zusammengerückt zu sein. In den „Antifaschistischen Ausschüssen“ wurden vom Naziregime Verfolgte unterschiedlicher politischer Couleur mit der Entnazifizierung und kommunalpolitischen Aufgaben betraut. Kommunisten, Sozialdemokraten und ehemalige Zentrumsleute gehörten diesen Ausschüssen an. Doch die unterschiedlichen Weltanschauungen fanden nicht auf Dauer zueinander. In der Kommunalpolitik zeigten sich bald die politischen Lager wieder, die schon vor 1933 die Kommunalpolitik bestimmt hatten: „schwarz“ und „rot“. Schon 1945 hatten die Franzosen mit dem Singener Arzt Bernhard Dietrich einen „Schwarzen“ zum Bürgermeister ernannt. 1946 war dann vom Gemeinderat der aus Radolfzell stammende Rechtsanwalt und ehemalige Zentrumsmann Theopont Diez zum Bürgermeister gewählt worden. Er stand ebenfalls für die christliche Tradition.
Wirtschaftswunder: Ein bisschen Moderne, ein bisschen Volkstümelei
Mit dem Aufschwung der deutschen Wirtschaft nach der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik begann in Singen nicht nur eine neue Phase des Städte- und Wohnungsbaus. Die wachsende Industrie und der Zuzug von Arbeitskräften beeinflussten auch die Singener Gesellschaft. Die 1950er Jahre waren die letzten Jahre, in denen das „alte Singen“ auch in der Bürgerschaft noch sehr präsent war: Zahlreiche Misthäufen zeugten noch von der Landwirtschaft, der Glaube spielte eine zentrale Rolle: Flurprozessionen und Bittgänge führten auf die noch unbebauten Flächen im Norden und Süden. Während die ambitionierten Bauprojekte Zeugnisse der Moderne waren, war die Politik noch stark vom Mitmischen der alten Eliten geprägt. Stadtpfarrer Adolf Engesser ebenso wie das Singener Unternehmertum mit teils brauner Vergangenheit nahmen erheblichen Einfluss und wussten finanzielle Unterstützung geschickt einzusetzen. Die Angst vor einem neuerlichen Krieg war präsent, wobei der Kommunismus für viele zu einem neuen alten Feindbild wurde. Traditionelle Institutionen hingegen boten Stabilität. Vereine, Jugendgruppen und Gewerkschaften boten preisgünstige Freizeitbeschäftigungen. In den zahlreichen Gaststätten wurde getanzt und gefeiert. Man suchte nach der entbehrungsreichen Zeit Vergnügen und Abwechslung zum arbeitsreichen Alltag.
„Mein erster richtiger Tanzabend war mit Alfred im Gasthaus „Gambrinus“. Da haben die Bauern Most im Korb mitgebracht. Den Alkohol gab es „unterm Tisch“. Sprudel hat man hingestellt und Most hat man getrunken. Der Alfred hat mit allem getanzt was gekommen ist.“ - Reinhold Panter, Jahrgang 1932.
Aus aller Welt – Singen als neue Heimat
Die Anfänge der modernen Migration in Singen gehen in die 1950er Jahre zurück, als die Stadt in Folge des Wirtschaftswunders und des Zuzugs von Flüchtlingen und Gastarbeitern stark anwuchs. Die Bundesrepublik schloss ab 1955 Anwerbeverträge mit süd- und südöstlichen Ländern, um Arbeitskräfte für deutsche Unternehmen zu gewinnen. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps 1973 lebten in Singen 7.000 ausländische Arbeitnehmer, sie machten rund 15 % der Gesamtbevölkerung aus.