Ein Ort der Möglichkeiten
Im Jahr 1855 besaß Singen gerade einmal 1.336 Einwohner. Während sich die Nachbargemeinden Hilzingen, Radolfzell, Engen oder Stockach rasch entwickelten, hinkte das Bauerndorf am Hohentwiel hinterher. Nur fünfzig Jahre später hatten sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Eisenbahnlinien, die Wasservorkommen und große ebene Flächen in der „Singener Niederung“ hatten Industrielle nach Singen gelockt. Um die Jahrhundertwende gehörte Singen zu den wichtigsten industriellen Standorten im deutschen Südwesten. Viele Arbeitskräfte aus dem Umland arbeiteten in den Fabriken von Maggi, GF und später auch in der Alu.
Zudem benötigte der Bahnbau und später dann der Bau von Fabrikanlagen und Wohnsiedlungen Arbeitskräfte. In der gewachsenen Stadt gab es dann auch vermehrt Bedarf im Handwerk und bei Dienstleistungen. Vom Gastwirt über das Kindermädchen bis hin zum Schuhmacher lockte die blühende junge Stadt Menschen an. Ein Boom, der bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht unterbrochen wurde und sich später fortsetzte. Nachdem um 1900 noch vorwiegend Menschen von den umliegenden Dörfern der Höri, vom Bodanrück oder dem Hegau nach Singen kamen, wuchs bald auch die Zahl derer, die von weiter weg hierherkamen. Vor allem aus dem Schwarzwald und von der Schwäbischen Alb zogen Menschen nach Singen. In ganz Süddeutschland erzählte man sich, Singen sei ein Ort der Möglichkeiten. Hier finde man Arbeit, könne bauen oder ein Geschäft eröffnen. Dies galt selbst in den wirtschaftlich schweren Jahren. So erinnert sich Reinhold Panter, wie seinem Vater, der aus einem kleinen Weinort in der Ortenau stammte, Ende der 1920er Jahre trotz Wirtschaftskrise geraten wurde, nach Singen zu ziehen. Zahlreiche Menschen, die zuvor zum Arbeiten nach Singen pendelten, gaben die Landwirtschaft im Heimatort auf und entschieden sich für eine Wohnung in Singen.
Um 1900 erreichte Singen bereits eine Einwohnerzahl von 4.000. Rund 10 % der Bevölkerung hatten eine andere Nationalität. Die schnell wachsende junge Industriestadt benötigte weitere Arbeitskräfte, weil die Fabrikarbeit von den Menschen aus Singen und der Umgebung nicht gedeckt werden konnte. Der Großteil der ausländischen Arbeiter stammte aus Nord- und Mittelitalien und führte schwere Tätigkeiten als Maurer, Pflasterer oder Kanalbauer aus. Auch Frauen wurden angeworben, um zum Beispiel in den Spinnerei-Betrieben zu arbeiten. Kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs 1915 verließen viele der Gastarbeiter fluchtartig die Stadt, um nicht an den Kämpfen teilnehmen zu müssen.

Arbeitsmigration in den ersten Jahrzehnten nach der Stadtwerdung
Viele Köpfe, viele Meinungen
Der Weg in die Moderne war alles andere als konfliktfrei. Während die einen an unendlichen technischen Fortschritt glaubten, trauerten andere einer längst vergangenen Zeit hinterher. Wieder andere motivierten die Probleme der Arbeitergesellschaft zu gänzlich neuen Weltanschauungen.
Mit dem explosionsartigen Wachstum der Bevölkerung ging in Singen auch eine Überforderung in Politik und Verwaltung einher. Nur fünf Jahre nach der Stadterhebung musste die konservativ-katholische Fraktion in allen drei Wählerklassen eine Niederlage einstecken. Als der katholische Pfarrer Neugart mit der Parole „Singen den Singenern“ nun gegen die Neubürger Stimmung machte, wechselten zahlreiche katholische Gemeinderäte zu den Liberalen. Bürgermeister Adolf Schrott, Katholik und aus einer alten Singener Familie stammend, legte aufgrund der Anstrengungen sein Amt nieder. Mit Valentin Busch wurde am 26. Juli erstmals ein auswärtiger Verwaltungsmann zum Berufsbürgermeister gewählt. Zum Leidwesen der Zentrumsanhänger war dieser auch noch Protestant. Obwohl der Konflikt zwischen Liberalen und katholisch-konservativen Kräften weiterhin zu Spannungen in der Bevölkerung und vor allem in Bürgerausschuss und Gemeinderat führte, fand man immer wieder den Konsens. Sicherlich trug auch der neue Stadtpfarrer August Ruf dazu bei, der 1904 nach Singen kam und sich zwar resolut für die katholische Sache einsetzte, dies aber ohne den Bezug zur Realität in der modernen Arbeiterstadt zu verlieren.
Bürgermeister Adolf Schrott
(1899-1904). Er gab 1904 sein
Amt auf und arbeitete weiterhin
für die junge Stadt als Ratsschreiber.

Valentin Busch, der erste Berufsbürgermeister
von Singen (1904-1912).

Pfarrer August Ruf wurde 1904 neuer Stadtpfarrer in Singen.
Er sollte als Zentrumsmann die Politik über 30 Jahre hinweg
maßgeblich prägen.
Anonymer Wahlaufruf in der „Freien Stimme“. Das Zentrum – allen voran Pfarrer Neugart – versuchte 1903 mit fremdenfeindlichen Parolen Stimmen unter den „Ureinwohnern“ zu fangen. Die Wählerschaft verpasste dieser „Rückständigkeit“ (so der „Hegauer Erzähler“) allerdings einen Denkzettel.
Die Arbeiterfrage – Neue Aufgaben
für eine Stadt
Neben dem seit den 1860er Jahren lodernden Konflikt zwischen liberalen und konservativ-katholischen (auch „ultramontan“ bezeichneten) Kräften, betrat in den 1890er Jahren die sozialistische Arbeiterbewegung die politische Bühne in Singen.
Nachdem 1894 der erste sozialdemokratische Verein „Vorwärts“ gegründet worden war, gibt es seit 1900 eine eigene SPD-Ortsgruppe. Zunächst handelte es sich aber um Interessenvertretungen, die weniger kommunale Politik als die Betriebs- und nationale Sozialpolitik im Blick hatten. Doch zuneh-mend war auch die Singener Kommunalpolitik mit der wachsenden Zahl an Arbeitern immer mehr mit den Problemen dieser bald größten sozialen Schicht konfrontiert. Die Zufriedenheit der hier an-sässigen Industriebetriebe, aber auch den Interessen der hier lebenden Arbeitnehmenden musste man Genüge tun.
In der Diskussion um Löhne, Arbeitszeiten, Kranken- und Unfallvorsorge entstand eine politische Arbeiterbewegung. Vor allem die nach Singen kommenden Großstädter waren bereits häufig Mitglied in einer politischen Gruppierung oder Gewerkschaft gewesen und brachten neue Ideen mit. Im Jahr 1868 kam es zur Gründung eines Arbeiterfortbildungsvereins, der eine liberal orientierte Linie verfolgte. Er setzte sich für Freiheit in der Bildung und Fortschritt in der Arbeitswelt ein: „Der Verein gibt in geistiger Hinsicht seinen Mitgliedern Gelegenheit zum Austausch und zur Weiterbildung in allen den Kenntnissen, welche das Gewerbe, die Stadt und die Gemeinde von tüchtigen Bürgern fördern.“ Neben dem Arbeiterfortbildungsverein gründeten auch die Katholiken Gruppierungen wie 1886 den Katholischen Gesellenverein. Im Mittelpunkt des Vereins stand die berufliche Weiterbildung, die soziale Unterstützung und die sittliche Betreuung der Handwerker. Die erste Gewerkschaft wurde 1895 mit dem Holzarbeiter-Verband ins Leben gerufen, 1900 folgte der Deutsche Metallarbeiter-Verband.
Während die katholische Kirche ihrerseits früh die Arbeiter mit speziellen Angeboten und Vereinen mobilisierte, bildeten auch die Sozialdemokraten im Hegau ein eigenes Milieu. Ein entscheidender Wendepunkt war hier der Besuch des Sozialdemokraten August Bebel auf dem Hohentwiel im August 1895.
Plakat der Singener SPD zu einem Vortrag im Mai 1906.
Die Stadtverwaltung hatte diese Arbeiterbewegung nur wenig interessiert. In der Kommunalpolitik dominierten die konkurrierenden Liberalen mit dem katholischen Zentrum. Die Arbeiterfrage und das sozialistische Lager interessierten in der Kommunalpolitik kaum jemanden. Erst als im Frühjahr 1907 rund 600 Arbeiter von der Stadtverwaltung die Einrichtung eines Gewerbegerichtes forderten, wurde die Stadt auf ihre Pflichten gegenüber der Arbeiterschaft aufmerksam gemacht:
„Dabei weisen wir auch insbesondere auf die Tätigkeit der Gewerbegerichte als Einigungsamt bei Differenzen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern hin, wodurch in vielen Fällen zum Nutzen der gesamten Einwohnerschaft Streiks und Aussperrungen verhütet wurden.“
(Schreiben des Vorsitzenden des freien Gewerkschaftskartells Kirchner an das Bürgermeisteramt vom 12.4.1907, GdAS V/179).
Erst 1909 beschloss der Gemeinderat die Einrichtung eines derartigen Gewerbegerichts, 1911 kam es zur Umsetzung. Davor hatte provisorisch der Bürgermeister in Streitfällen zwischen Arbeiterbewegung und Unternehmen vermittelt. Auch die Einrichtung einer allgemeinen Ortskrankenkasse 1907 zählte zu den bedeutenden Schritten in der kommunalen Fürsorgepolitik. Zuvor hatte es Betriebskrankenkassen und eine Gemeindekrankenkasse gegeben.