Alte Gräben, neue Radikale – Singen in der Weimarer Republik
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es im ganzen Reich zu Unruhen. Der verlorene Krieg und das Ende der Monarchie brachten überall einschneidende Veränderungen mit sich. Während die einen nun die Chance für einen sozialistischen Staat gekommen sahen, bekämpften rechte Kräfte bald den „Diktatfrieden von Versailles“. Die erste deutsche Republik stand auf wackligen Beinen. Dies war auch in Singen zu spüren. Und dennoch machte sich Mitte der 1920er Jahre auch Optimismus breit: Die „Golden Twenties“ hielten etwas biedermeierlich auch in der Stadt unterm Twiel Einzug.
Singen als SPD und KPD-hochburg
Die Inflation hatte 1923 dafür gesorgt, dass die Kommunen und Fabriken Notgeld in hohen Auflagen druckten. Nach dem Ende der Inflation brachte die Familie Oexle die Flut an Geldscheinen zum Altpapierhändler. Diese Szene hielt Peter Oexle („Glas Oexle“) fotografisch fest.
Zwischen Fortschritt und Krise
Selbst während der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich Singen in vielerlei Hinsicht weiterentwickelt. In der Amtszeit von Bürgermeister Dr. Otto Jägler (1919–1923) wurde mit dem Bau einer ersten städtischen Wohnkolonie begonnen. Ab 1921 entstanden trotz der schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse am Tittisbühl und am Harsengraben Wohnhäuser im Auftrag der Stadtverwaltung. 1920/21 wurde die Gewerbe- und Handelsschule selbstständig. Das Vereinsleben versuchte man durch die Errichtung einer provisorischen Turnhalle auf dem Ekkehardplatz zu unterstützen. Im Sommer 1922 konnte das neue Bad am Mühlekanal eingeweiht werden. Diese und weitere Fortschritte in der Stadtentwicklung dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass durch die Singener Gesellschaft tiefe Gräben führten. Die Traditionsvereine hatten Schwierigkeiten, ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Aufgrund der politischen Spannungen war die Fastnacht lange Jahre verboten worden und in der Feuerwehr waren viele nicht mehr bereit, nach den Kriegserlebnissen eine Uniform zu tragen und Dienst zu leisten. Angesichts der heftigen Spannungen, die sich zwischen KPD und SPD und aufgrund der schlechten Finanzlage abzeichneten, hatte Bürgermeister Jägler Anfang 1922 bereits seinen Rücktritt angekündigt. Es zeichnete sich eine Machtkonstellation ab, die Singen nachhaltig beeinflussen sollte. Die liberalen Kräfte unter den Einheimischen und das Zentrum taten sich zusammen. Diese „Koalition des alten Singener Kleinbürgertums“, wie Gert Zang es nannte, bestimmte fortan die Kommunalpolitik. Als neuer Bürgermeister wurde Dr. Edmund Kaufmann gewählt.
Das Singen der Weimarer Jahre war voll von Gegensätzen. Mehrere parallele Lebenswelten prägten die Gesellschaft. In das historische Gedächtnis haben sich vor allem die Konflikte, wie die Ermordung Major Scherers oder die Saalschlachten zwischen Kommunisten und Nazis Anfang der 1930er Jahre eingebrannt. Doch die Konflikte beschränkten sich ansonsten auf die Polemik in den Zeitungen und kleinere Auseinandersetzungen. Vielmehr existierten die Milieus als eigene Parallelwelten, die auch häufig ganze Stadtteile dominierten. So wohnten viele Kommunisten und Sozialdemokraten in den Arbeitersiedlungen, die Liberalen dominierten die Innenstadt und das Zentrum das alte Dorf, in dem immer noch die alten Singener Bauern- und Handwerkerfamilien lebten.
Die Koalition der bürgerlichen Schichten beeinflusste Singens Sozial- und Kulturpolitik seit 1923 massiv. Eine traditionalistische aber nicht fortschrittsfeindliche Politik bestimmte die Stadt. Dem Einzelhandel und der katholischen Kirche kamen in diesen Jahren eine Schlüsselrolle in der Kommunalpolitik zu. In die Ära von Dr. Edmund Kaufmann fallen die Errichtung der Scheffelhalle (1925), der Waldeckhalle und des Krankenhauses (1928/29). Die Umgestaltung der alten Pfarrkirche, der Bau der Josefskirche und die Einrichtung eines Kinderheims wurden vom katholischen Bürgertum finanziell unterstützt.
Obwohl die Sozialdemokraten und auch die Kommunisten in Singen viele Anhänger hatten, die sich in verschiedensten Milieuvereinen engagierten, gelang es auch den konservativen Einheimischen, Nachwuchs für die Traditionsvereine zu gewinnen. Die Fasnet wurde neu organisiert, man begann sich als „historischen Ort“ zu vermarkten und mit dem Bau der Scheffelhalle entstand eine Heimat für alle Vereine, die unabhängig politischer Orientierung gemietet werden konnte. Trotz der gegensätzlichen Weltanschauungen, die in Singen aufeinandertrafen, fand man im Gemeinderat und Bürgerausschuss beim Wohnungsbau und in Finanzfragen Mehrheiten, oft sogar mit Unterstützung der KPD. Ein bisschen „heile Welt“ erlebte die Singener Bürgerschaft bei den großen Festen jener Jahre: beim Hegausängerfest 1925, beim großen Feuerwehrjubiläum 1926 oder bei den gewaltigen Fronleichnamsprozessionen. Dennoch war der Alltag in hohem Maße politisiert. Dabei ging es weniger um die lokalen Verhältnisse als um die grundsätzliche Frage, nach welcher Ideologie die Gesellschaft gestaltet sein sollte.