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Der neue Stadtbaumeister – Amerika hält Einzug in der Singener Stadtplanung

In der Nachkriegszeit bot die Zerstörung der deutschen Innenstädte die Möglichkeit, Stadtplanung neu zu denken. Zwar wurden in Singen durch die Luftangriffe 1944/45 nur wenige Häuser entlang der Haupt- und Rielasingerstraße und am Bahnhof vollständig zerstört, jedoch machte der Zeitgeist auch vor der Stadt im äußersten Südwesten nicht Halt. Inspiriert durch
eine Amerikareise mit Mitgliedern des Gemeinderates griff Stadtbaumeister Hannes Ott „moderne Ideen“ des Städtebaus auf: den Vorrang des Individualverkehrs vor der historischen Bausubstanz sowie eine klare
Trennung von Arbeit, Wohnen und Einkaufen, die sich auch im Stadtbild äußern sollte. Gerade die Bausubstanz im Alten Dorf bot hier keine Möglichkeit für
das „moderne Bauen“ und stand dem Traum von doppelspurigen Schnellstraßen durch die City sogar entgegen. Die Verwaltung ging in ihren Planungen mittelfristig von einer Einwohnerzahl von 100.000 Menschen
aus.

Heute waren wir im State-Departement. Da kann man Verwaltungsbauten studieren. Tolle Materialien. Und alles indirekte Beleuchtung (…). Ich habe den Amtsschluss bei den Regierungs-gebäuden gesehen. Keine Busbahnhöfe, so, wie wir es am Bahnhof Singen wollen. (…) Wir werden sicher großzügiger für unsere Planungen.“
Hannes Ott, Notiz in: StASi 197 NL Ott, Amerikareise März 1955

Die Singener Delegation bei der Amerika-Reise im Frühjahr 1955 vor der Silhouette
von New York.

Ott’s Visionen 

ein „amerikanisches“ Rathaus für die Stadt

Hannes Ott leitete von 1953 bis 1981 das Singener Stadtbauamt. Er entwickelte gerade in den Anfangsjahren zahlreiche großstädtische Visionen, als deren markantestes Beispiel das neue Rathaus gelten kann. Im Sinne eines „geordneten Städtebaus“ plante er ein neues Rathaus, das sämtlichen Anforderungen einer modernen Verwaltung auch in Zukunft gerecht werden konnte. Allerdings stand für einen Neubau das Alte Dorf buchstäblich „im Weg“, da der Stadtbaumeister ein großzügig angelegtes Verwaltungs- und Kulturzentrum mit ausgedehnten Grünflächen entlang der Aach im Sinn hatte. 

Die zukünftige Bebauung um dieses neue Stadtzentrum herum hatte sich nach seinen Vorstellungen „dem Schloss und dem Rathaus unterzuordnen“. Für den Stadtplaner bedeutete der Rathausneubau die Chance, ein einmaliges, vierstöckiges Gebäude mit einem gewaltigen Baukörper und einer Strahlkraft nach außen zu verwirklichen, dass der Stadt ein „Rückgrat“ geben sollte. Der Bezug zum Stadtzentrum und zur Hegaulandschaft spiegelte sich in der Benennung der Sitzungssäle „Hohgarten“ und „Hohentwiel“ sowie in der Verwendung heimischer Baumaterialien wider. Ott setzte das neue Rathaus bewusst in einen Gesamtzusammenhang mit dem Schloss und der Kirche St. Peter und Paul: Gemeinsam sollten sie den ruhigen, freundlichen und menschlichen Charakter des Singener Landschaftsraums symbolisieren.

Eine Besiedlungsspange bis an den Bodensee für
den Wirtschaftsraum nördlich der Alpen 

Otts Visionen, Teil 2

„(…) Wie kommt es dazu, dass diese Straßenführung so großzügig geplant wurde? Und da stieß ich dann auf Hannes Ott mit seinen stadtplanerischen Konzepten der Bandstadt, und das hat mich dann auch gebannt.“ - Interview Krug


Hannes Ott verfolgte noch andere visionäre Pläne: So stellte er dem Gemeinderat in einer Sondersitzung 1963 sein Konzept für eine Gesamtplanung im Raum Singen vor. Zwischen den Städten Singen und Radolfzell sah er das optimale Gebiet, um ein Wirtschaftszentrum am Bodensee
nördlich der Alpen zu etablieren. Auf der Grundlage eines Organisationsplans sollten Industriegebiete, Wohngebiete, Erholungsgebiete und Verkehrsanlagen entlang der zweigleisigen
Bahnlinie gebaut und sinnvoll voneinander abgetrennt werden – die Idee einer „Bandstadt“ war geboren.
 

Für Ott hatte der gelenkte Ausbau einer Stadt absolute Priorität vor einem organischen Wachstum. Die Stadtentwicklung sollte stets „aus eigener Kraft“ betrieben werden. Die Visionen des Stadtplaners wurden ab Mitte der 1960er Jahre jedoch zunehmend kritischer beurteilt. So schrieb beispielsweise der Journalist Herbert R. Baier im Singen Jahrbuch 1967: „Wenn der (…) Reiz unserer Heimat in der
engen Verbindung der (…) Arbeitswelt und einer großartigen Erholungslandschaft liegt, dann muss alles darangesetzt werden, daß diese Situation möglichst unverfälscht erhalten wird. (…) Vernünftiger Fortschritt kann nur in einer organischen Entwicklung liegen (…).“ Auch trugen immer mehr Stadträte die Ideen von Hannes Ott nicht mehr vorbehaltlos mit, da sie in ihnen keine Lösungsvorschläge für
die schädlichen Nebenwirkungen der zunehmenden Industrialisierung sahen.

Unter dem neuen Oberbürgermeister Friedhelm Möhrle wandelte sich in den 1970er Jahren dann die Stadtplanung und passte sich den zeitgemäßen gesellschaftlichen und ökologischen Strömungen an. Der von Ott noch großzügig dimensionierte Innenstadtbereich im Sinne eines Geschäftsviertels
wurde durch die Planungen für einen „Inneren Ring“ auf nahezu ein Viertel der Gesamtfläche reduziert und entsprach somit wohl auch eher der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung
Singens: kein rasantes Wachstum mehr, sondern Konsolidierung des Bestandes. Und dadurch
wurde Platz für neue Visionen in den Bereichen Grün- und Kulturplanung.

Die großräumigen Planungen Otts machten nicht an Gemarkungsgrenzen halt. Wie ein Band sollten sich Industrie-
und Wohngebiete aneinanderreihen, verbunden duch mehrspurige Straßen und Bahnlinien. Die sogenannte
„Bandstadt“ sollte sich von Gottmadingen bis nach Radolfzell erstrecken.

Ein bürgerschaftliches Gegenmodell zum „amerikanischen
Traum“: Das Bauforum e.V.

 In Singen trafen sich 1969 engagierte Bürger und Bürgerinnen, um über die Themen „Stadtentwicklung, Verkehrsplanung und Bausubstanz der Stadt Singen“ kritisch zu diskutieren – das Bauforum war geboren. Ziel des am 23. Juni 1972 gegründeten Vereins war es, alternative Wege in der Stadt- und Grünplanung aufzuzeigen. Hierfür erstellten die Mitglieder zahlreiche Dokumentationen für historische Bauwerke und vergaben die Medaille „Pro Civitate“ für Gebäude, die denkmalgerecht saniert wurden. Der „kritische Bürger“ rief unterschiedliche Reaktionen hervor: während gerade das Stadtbauamt dem Bauforum eher skeptisch gegenüberstand, Unterstützten einzelne Fachleute die Initiative. So stellte beispielsweise Stadtrat Anselm Dietrich der gesamten bisherigen Planungspolitik ein vernichtendes Zeugnis aus und schrieb im April 1969 im Südkurier: „Die Singener Stadtplanung hat kläglich versagt.“ Weiter kritisierte er, dass überall Stadtteile entstanden seien, die „in ihrer Monotonie kaum zu überbieten sind, schnurgerade Straßen verstärkten den Eindruck der ‚tristesse‘ noch.“
Auch die städtische Personalpolitik wurde bemängelt: Der Gartengestalter Kurt Burkart kritisierte die städtischen Grünflächen als in ihrer „Gesamtplanung völlig verfehlt“ und forderte die Einstellung eines Gartenbauingenieurs. An der Verkehrsplanung entzündete sich ein heftiger Streit zwischen Verwaltung und dem Bauforum: Der Ausbauplan für die Bundesautobahn Stuttgart-Westlicher Bodensee sah eine Weiterleitung des Verkehrs durch die Singener Innenstadt an Stelle einer Umfahrung vor. Hierfür sollte die Ekkehardstraße verlängert und ab der Kirche St. Peter und Paul
auf Stelzen angehoben werden – somit hätte eine Hochstraße über das Rathaus, die Reste des Alten Dorfes und den Stadtgarten hinweg auf die Schanz zum Autobahnzubringer geführt. 1985 wurde diese visionäre Planung ohne Beteiligung der Bevölkerung durch die Klage mehrerer Singener
Familien verhindert, die ihre Häuser im Alten Dorf nicht dem Autobahnbau opfern wollten.
Das Bauforum löste sich in Folge des Mitgliedermangels zum 27. Oktober 2010 auf.